Presseaussendung

Wenn die Moral sich den Umständen anpasst

Als ein Sachbearbeiter, der privat mit seinen Ratenzahlungen im Rückstand ist, Zahlungsanweisungen für Einkäufe seiner Firma abzeichnet, kommt er auf die Idee, dass es doch einfach wäre, sich den offenen Betrag vom Firmenkonto zu borgen. Immerhin braucht das Geld im Augenblick niemand, und er weiß, dass er es in ein paar Monaten zurückzahlen kann, zumal dieser „Kredit“ zinsfrei ist.

Solche Fälle mögen auf den ersten Blick harmlos wirken, aber in unserer schnelllebigen Welt mit ihren Wachstumsmärkten und ihren schwankenden moralischen Maßstäben, in der die Meinungen immer weiter auseinandergehen, welches Geschäftsgebaren noch hinnehmbar ist, sind sie keine Seltenheit.

Die Zunahme an spektakulären Betrugsfällen, die in den Nachrichten auftauchen, ist nur ein Anzeichen dafür, wie sich die Ansichten über Moral in unserer Gesellschaft verändert haben.

Auffälligerweise sind es heute nicht mehr hart gesottene Verbrecher, die aufsehenerregende Unterschlagungen begehen, sondern Familienväter und Frauen, die sonst erfolgreich im Beruf stehen.

Vor kurzem wurden ein ehemaliger Gouverneur eines südlichen Bundesstaates der USA und der Vorstandsvorsitzende eines führenden Unternehmens im Gesundheitswesen wegen ihrer Verstrickung in eine Schmiergeldaffäre zu einer Gefängnisstrafe von über sechs Jahren verurteilt. Beide haben Familie, der eine hat neun Kinder. Beide hatten für die Gesellschaft schon viel Gutes getan, und doch wurden sie nun wegen eines Gesellschaftsdelikts angeklagt.

Ursache und Wirkung

Unmoralisches Verhalten fängt ganz harmlos an, so Kim B. Clark, Präsident der BYU Idaho und ehemaliger Dekan des betriebswirtschaftlichen Lehrstuhls in Harvard. „Wenn materialistische Geda
nken in die Seele eines Menschen vordringen, verliert er den Überblick. Das kann einem Mitglied der Kirche genauso passieren wie jedem anderen“, sagt er.

Aber es ist nicht einfach nur Materialismus, der zum Sittenverfall beigetragen hat, meint Elder Clark, der während der letzten Generalkonferenz als Gebietssiebziger bestätigt wurde. Viele Faktoren haben einen Einfluss darauf, was die Gesellschaft für richtig oder für falsch hält. Auch das Bildungswesen spielt eine Rolle.
„Wir erleben heute die Folgen davon, dass Bildungseinrichtungen jahrzehntelang dem Auftrag nicht nachgekommen sind, den Charakter zu formen und Werte zu vermitteln“, erklärt Elder Clark. „Es hat eine Art moralischer Relativismus überhandgenommen. Viele Lehrkräfte und Schulleiter haben sich von der Vorstellung verabschiedet, den Charakter und die Ehrlichkeit ihrer Schüler stärken und entwickeln zu wollen.“

Das Problem beruhe zum Teil darauf, so Elder Clark, dass die Einstellung um sich greift, die Wertvorstellungen eines Menschen seien gleichgültig, solange er seine Gedankenwelt nicht anderen aufzwingt.
„Wenn man das lange genug wiederholt, glauben schließlich eine Menge Schüler, die durch eine solche Schule gegangen sind, dass es stimmt -- die Vorstellung, man müsse (jederzeit) ehrlich sein, sei bloß die Ansicht einer einzigen Gruppe. Die Folge sind Menschen, die von Regeln nicht allzu viel halten, und die auf keinen Fall glauben, dass auch für sie Regeln gelten“, meint Elder Clark.

W. Steven Albrecht, stellvertretender Dekan der Marriott School of Management an der BYU und Autor zahlreicher Bücher über Geschäftsbetrug, bezeichnet dies als „Zuordnungsmangel“. Wie er sagt, prägt der Mensch seine moralischen Vorstellungen auf zweierlei Weise: durch Nachahmung, also indem er sich an Vorbildern orientiert, und durch Zuordnung, die ihm beigebracht und die trainiert werden muss. Mangelnde Zuordnung und immer mehr schlechte Vorbilder haben bei den moralischen Maßstäben der Gesellschaft Spuren hinterlassen.
„Schauen Sie sich nur die Nachrichten an“, sagt Bruder Albrecht. „Noch nie wurden einem so viele schlechte Vorbilder in solcher Ausführlichkeit vorgeführt. Ein gutes Vorbild schafft es nicht oft bis in die Nachrichten.“

Was die Vermittlung und die Schulung betrifft, teilt er Elder Clarks Ansicht. Er sagt: „Eine Schule kann einem aus vielen Gründen keinen Anstand beibringen. Sie muss wertneutral sein.“

Außerdem habe die Vermittlung und die Schulung früher zu Hause stattgefunden, aber heute, so Bruder Albrecht, verbringe die durchschnittliche amerikanische Familie pro Woche zehn Stunden weniger zusammen als noch 1980.
„Das Zuhause war einmal ein Ort, wo die Familie zusammensaß und miteinander das Essen einnahm, wo man Werte vermittelte und einander belehrte und schulte. Heute sind vielfach beide Eltern berufstätig, und man begegnet sich sozusagen nur noch auf dem Flur.“
Wenn ein Mensch schlechte Vorbilder hat und nur unzureichend Zuordnungen treffen kann, entwickelt er, wie Bruder Albrecht es ausdrückt, eine situationsbedingte Ehrlichkeit; das heißt, er ist ehrlich, wenn sich Ehrlichkeit auszahlt, und unehrlich, wenn sich Unehrlichkeit auszahlt.
Ist jemand an einem Betrug beteiligt, liegen für gewöhnlich drei Faktoren vor: der (vermeintliche oder tatsächliche) Zwang, unehrlich zu handeln, die Aussicht, ungeschoren davonzukommen, und genügend Ausflüchte für solch ein Handeln. Auch wenn ein cleveres Unternehmen noch so viel unternimmt, um keinen Anreiz für einen Betrug zu schaffen, hängt es doch vom Einzelnen ab, wie gut er mit solchen Zwängen und Ausflüchten umgehen kann. An dieser Stelle sind die Mitglieder der Kirche genauso verwundbar wie jeder andere.

Die Sitten und Bräuche in der Kirche

Bruder Albrecht zufolge ist es bei den Mitgliedern der Kirche „die Regel, dass sie finanziell stark belastet sind. Wir haben meist größere Familien, wir leisten größere Beiträge als die meisten anderen, und wir legen mindestens so viel Wert auf Bildung wie andere, wenn nicht noch mehr.“

Was sich jedoch wirklich negativ auswirke, so sagt er, sei der finanzielle Druck, dem sich die Mitglieder der Kirche selbst unterwerfen. Dazu kommt es, wenn bei ihnen eine verzerrte Vorstellung davon entsteht, was Erfolg bedeutet.
Statt sich auf ihre Beziehung zur Familie, zu ihren Freunden und Bekannten und zum Herrn zu konzentrieren, so Bruder Albrecht, meinten einige Heilige der Letzten Tage, Erfolg bedeute mehr Besitz. Am verbreitetsten sei dabei der Gedanke, man mache das alles für seine Familie.
Um sich finanziell nicht unter Druck zu setzen, sollten sich die Mitglieder der Kirche vor allem bemühen, mit ihren Mitteln auszukommen, meint Elder Clark. Wer bereits finanziell belastet sei, solle der Realität ins Auge blicken und bereit sein, das eine oder andere abzustoßen, sein Konsumverhalten zu ändern oder vielleicht sogar in eine günstigere Unterkunft umzuziehen. Mit Selbstdisziplin, sagt er, kann jedermann finanziellen Belastungen aus dem Weg gehen.

Standhaftigkeit

Was aber ist, wenn der Zwang, unehrlich zu handeln oder ein unehrliches Verhalten zuzulassen, von anderen ausgeht?
Im März 2005 stellte die Harvard Business School fest, dass 119 Studienplatzbewerber sich unerlaubt Zugriff auf eine neutrale Webseite verschafft hatten, um vorzeitig Einblick in den noch nicht veröffentlichten Stand ihres Aufnahmeverfahrens zu erhalten. Unter großem Druck von innerhalb und außerhalb der Einrichtung musste der damalige Dekan Clark einen Beschluss fassen, wie Harvard auf dieses Verhalten reagieren sollte.
Auch wenn viele Harvard nachher „scheinheilige Effekthascherei“ vorwarfen, beschloss Dekan Clark, die schuldigen Bewerber abzulehnen -- der Fall liege ähnlich wie bei jemandem, der das Schloss der Zulassungsstelle für Bewerber knackt, um den Stand in den Akten einzusehen.

In einer offiziellen Stellungnahme schrieb Dekan Clark: „Wir haben den Auftrag, Führungspersönlichkeiten mit hohen Grundsätzen auszubilden, die in der Welt etwas bewirken. Dazu braucht ein Mensch viele Fähigkeiten und Eigenschaften, so auch ein Höchstmaß an Redlichkeit, ein gesundes Urteilsvermögen und starke moralische Schranken -- ein intuitives Gespür dafür, was richtig und was falsch ist. Wer sich unerlaubten Zugriff auf diese Webseite verschafft hat, hat diese Probe nicht bestanden.“

Wie wichtig es ist, standhaft für das Richtige einzutreten, zeigt sich für Elder Clark am besten darin, dass selbst Gesetze nicht gegen eine falsche Auslegung gefeit sind. „Ein Gesetz an sich ist eine Erscheinungsform von Macht, und (Menschen) können das Recht ändern, um Macht zu erlangen.“

Stephen Bills ist Teilhaber einer Unternehmensberatungsgesellschaft in Kalifornien. Sein Beruf erfordert von ihm nicht, im Rampenlicht zu stehen, auch wenn er sich um die finanziellen Belange von namhaften Klienten aus der Unterhaltungsbranche kümmert. Ständig bieten sich ihm Gelegenheiten, finanzielle Hintertürchen zu nutzen, die ihm und seinen Klienten sowohl Zeit als auch Geld sparen würden. Er sagt: „Manchmal ist man schon versucht, mitzuziehen und etwas auf eine bestimmte Weise einfach geschehen zu lassen, aber dann muss man sich bremsen und nachdenken. Manchmal muss man klar Stellung beziehen oder zumindest Bescheid geben.“ Es ist schon vorgekommen, dass er einem Klienten erklären musste, warum er besser kein Hintertürchen nutzt, und letzten Endes hat der Klient dann Respekt vor seiner Haltung gehabt oder ihm sogar gedankt.

Bruder Bills weiß, dass das Beispiel, das er jeden Tag gibt, seine Angestellten und seine Klienten nicht unbeeindruckt lässt. „Durch den Umgang, den man mit einem Menschen pflegt, beeinflusst man ihn. Man kann jemanden darin bestärken, das Richtige zu tun, wenn er sieht, dass man selbst keine faulen Kompromisse eingeht oder dass man es sich nicht leicht macht.“

Hinweis an Journalisten:Bitte verwenden Sie bei der Berichterstattung über die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage bei deren ersten Nennung den vollständigen Namen der Kirche. Weitere Informationen hierzu im Bereich Name der Kirche.