Presseaussendung

Zeuge der Geschichte

Durch die Fenster im Missionsheim konnten Elder Wolfgang Paul und seine Familie auf der einen Seite der Prager Straße tausende und abertausende Demonstranten sehen, die vom Hauptbahnhof ins Stadtzentrum von Dresden marschierten und mehr Freiheit forderten. Auf der anderen Seite sahen sie schwer bewaffnete Polizisten mit Helmen und Schilden, die bereitstanden, um gegen die Demonstranten vorzugehen. Elder Paul beschreibt diese Tage des Jahres 1989, als die Demonstranten gegen die sowjethörige Obrigkeit der ehemaligen DDR aufbegehrten, als äußerst angespannt.
Die Proteste mündeten einmal in Gewalt, als die Polizei plötzlich -- wie auf ein Signal -- eingriff und auf die Demonstranten einschlug.
"Ich hatte unsere Kinder noch nie so verängstigt gesehen", sagt Elder Paul rückblickend.
Er war damals Präsident der Mission Dresden -- der erste Missionspräsident seit dem Mauerbau 50 Jahre zuvor, der in der DDR mit ausländischen Missionaren dienen durfte.
Elder Paul, 65, der bei der Frühjahrs-Generalkonferenz als Mitglied des Zweiten Kollegiums der Siebziger bestätigt wurde, hat einige der bedeutsamsten politischen und gesellschaftlichen Ereignisse der neueren Weltgeschichte hautnah miterlebt.
"Über diese Zeit könnte man ein Buch schreiben", sagt er. "So viel ist da passiert!"
Am wichtigsten für ihn ist jedoch, dass er selbst erlebt hat, wie der Herr durch ein Wunder die ein halbes Jahrhundert alten Grenzen hinwegnahm, die ein ganzes Volk vom Evangelium trennten.
Elder Paul wurde 1940 im westfälischen Münster geboren und wuchs umgeben von der hitzigen Rhetorik, die den Kalten Krieg prägte, auf. Für ihn war der Feind -- der sich auf der anderen Seite der nahen Mauer befand -- aggressiv und gefährlich.
"Ich hätte nie gedacht, dass die Mauer zu meinen Lebzeiten so friedlich fallen würde", erklärt er. "Ich dachte nicht, dass dies ohne Gewalt möglich sei. Vielleicht mit Gewalt -- aber nicht so friedlich."
Elder Paul erinnert sich noch gut an einen Telefonanruf, den er spät am Abend von Präsident Thomas S. Monson, dem damaligen Zweiten Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft, erhielt. Das war im Januar 1989, und Elder Paul hatte kurz zuvor seinen Dienst als Präsident der Mission Hamburg angetreten.
Präsident Monson war im Oktober 1988 von einem historischen Zusammentreffen mit Angehörigen der DDR-Regierung, an dem er zusammen mit Elder Russell M. Nelson vom Kollegium der Zwölf Apostel und Elder Hans B. Ringger von den Siebzigern sowie einigen Kirchenführern aus der DDR teilgenommen hatte, zurückgekommen, in dem der Kirche die Erlaubnis erteilt worden war, ausländische Missionare ins Land zu schicken.
Elder Paul erfuhr, dass er jetzt in der DDR dienen sollte. Er erkannte, dass jahrelanges aufrichtiges Beten und großer Fleiß der Mitglieder in der DDR diese Chance eröffnet hatten, das Evangelium in der kommunistisch regierten DDR zu verkünden. Alles musste richtig ablaufen.
Ihm war klar, dass er und die Missionare von der kommunistischen Obrigkeit aufmerksam beobachtet werden würden und dass die Zukunft der Kirche in diesen Ländern davon abhing, wie sie vorgehen würden.
Elder Paul überquerte nicht zum ersten Mal die Grenze zur DDR -- er war schon öfter dort gewesen und an lange, akribische Durchsuchungen gewöhnt.
Als er und die ersten acht Missionare sich am 30. März 1989 der Grenze näherten, rechnete er damit, dass die Amerikaner und die drei Kleintransporter mit ihrem Gepäck ausgiebig durchsucht werden würden.
Zu seiner Überraschung durften sie gleich, nachdem sie ihre Papiere vorgelegt hatten, passieren. "Das war das erste Mal, dass ich einen Grenzbeamten winken sehen habe", erinnert sich Elder Paul.
Das erste Mal seit einem halben Jahrhundert reisten ausländische Missionare in ein kommunistisches Land ein. Zwei Missionare wurden in Berlin abgesetzt, zwei in Leipzig, zwei in Dresden und zwei in Zwickau.
Sie hatten kaum eine Wohnung, da begannen sie schon, die Familien, Freunde und Nachbarn zu unterweisen, die von den Mitgliedern in der langen Zeit ohne Missionare vorbereitet worden waren.
"Das werde ich nie vergessen", sagt Elder Paul. "Am nächsten Tag nach unserer Ankunft besuchte ich zusammen mit einem Missionar und dem Gemeinde-Missionsleiter eine Familie für eine Unterredung. Am dritten Tag, dem 1. April, ließen sich drei Angehörige dieser Familie taufen.
"Von da an gab es fast jede Woche Taufen", erzählt er.
Es sollte noch anderthalb Jahre dauern, ehe das Missionsheim schließlich einen Telefonanschluss bekam, die Mission wuchs unterdessen aber auf 160 Missionare an.
Aus diesen und allen anderen Erfahrungen in seinem Leben erkannte Elder Paul: "Wenn man den Herrn an die erste Stelle setzt, ergibt sich alles andere von selbst."
Elder Paul -- der als Mitglied der Kirche in zweiter Generation in einer glaubensstarken Familie groß geworden ist --, hat das Evangelium von seinem Vater gelernt, der, Jahre zuvor, durch eine auf dem Küchentisch zurückgelassene Broschüre auf die Kirche aufmerksam geworden war und sich später der Kirche angeschlossen hat.
Elder Paul hatte nie Zweifel am Evangelium, doch erst bei der Bundeswehr brannte sich sein Zeugnis tief in ihm ein. Damals sehnte er sich nach Erkenntnis.
Während seiner Dienstzeit in Frankreich erhielt er ein Zeugnis vom Buch Mormon und von der göttlichen Berufung des Propheten Joseph Smith.
"Vor diesem Erlebnis hatte ich nie an der Wahrheit des Evangeliums gezweifelt", erklärt er. "Nun wusste ich es mit Gewissheit."
Elder Pauls Glaube wurde kurz nach seiner Heirat mit Helga Klappert, die ihn mit ihrer Evangeliumskenntnis und ihrer regen Beteiligung am Kirchenleben beeindruckt hatte, auf die Probe gestellt.
Er bereitete sich in der Ausbildung auf eine wichtige Prüfung vor, war an den Wochenenden aber auch durch seine Aufgaben in der Kirche sehr beschäftigt. Zu Beginn jeder neuen Woche erzählten seine Kameraden, was sie am Wochenende alles gelernt hatten.
Elder Paul kam am Wochenende nie zum Lernen und fühlte sich dadurch manchmal benachteiligt. Nachdem er jedoch die Prüfung bestanden hatte, zweifelten die Kameraden an dem, was er ihnen über seine Wochenendbeschäftigung erzählt hatte.
Wie die Herausforderung oder ein Problem auch aussehen mag -- die Lösung, so Elder Paul, sei immer, als Erstes dem Herrn zu dienen. Diese Lebensmaxime hat ihn nie im Stich gelassen.

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