[Diese Abhandlung über Glauben und Gesellschaft ist die zweite in einer fünfteiligen Reihe über den Wert der Religion.]
„Gemeinsam ist es schwerer, aber gemeinsam ist es auch besser.“ – Rabbi David Wolpe1
Warum gehört jemand einer bestimmten Religion an? Der eine wird in eine Religion hineingeboren, der andere bekehrt sich erst dazu. Früher oder später jedoch muss ein jeder sich entscheiden, ob er in seiner Religionsgemeinschaft mitwirken will. Eigentlich stammt das Wort Religion vom lateinischen „religare“, was zurückbinden oder binden bedeutet. Was könnte in einem Zeitalter, in dem die persönliche Freiheit großgeschrieben wird, weniger anziehend wirken, als sich an die Macken und Eigenheiten einer großen Menschenmenge zu binden?
Und doch ist vielen Religionen der Grundsatz gemeinsam, dass die Trennlinie zwischen dem Ich und den Mitmenschen sehr schmal ist. Jesus Christus formulierte den Auftrag ganz einfach: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“2 Mit anderen Worten: Das eigene Wohlbefinden liegt längst nicht nur in einer abgehobenen persönlichen Freiheit, sondern ist auch an das Wohlbefinden der Mitmenschen geknüpft. Eine Religionsgemeinschaft kann daher ein hilfreiches Bindeglied zwischen zwei ineinandergreifenden Impulsen sein: dem Verlangen nach einem individuellen Sinn im Leben und dem Verlangen, zu einer Gemeinschaft zu gehören. Wie immer, wenn es um das Wohl des Menschen geht, muss zwischen diesen Impulsen Ausgewogenheit hergestellt werden.
Institutionelle Religionsgemeinschaften sind gewiss nicht die einzige Quelle alles Guten auf der Welt. Ein Mensch kann ein erfülltes Leben haben und ganz im Stillen seine Glaubensansichten ausleben. Im Laufe der Geschichte jedoch kommt den organisierten Religionen nichts gleich, wenn es darum geht, eine konkrete Gruppe von Menschen an einem konkreten Ort dazu anzuspornen, sich für andere einzusetzen.3 In dieser anhaltenden Anteilnahme am Nächsten leistet die Religion ihren bleibenden Beitrag.
Teil einer Kirche zu sein ist weit mehr, als sie lediglich zu besuchen. Neben vielen weiteren Segnungen für den Einzelnen kann dies die Selbsterkenntnis, die Strebsamkeit und die Bildung fördern und Chancen bieten. Das geht aber nur, wenn er über den Tellerrand hinausschaut und sich anderen zuwendet. Die Religion regt das soziale Verantwortungsbewusstsein an. Man fasst Vorsätze nicht aus eigenem Interesse, sondern um sich Gott zu verpflichten. Dieses „Sich-binden“ gehört zu den seltsamen Vorgängen in der Geschichte, bei denen jemand eine soziale Verpflichtung über den Familien- oder Stammeskreis hinaus eingeht. Der Glaubensgenosse ist oft am besten in der Lage, sich um einen Kranken zu kümmern, das Haus des Nachbarn zu reparieren oder eines der unzähligen sonstigen Löcher zu stopfen, die man selbst nicht stopfen kann. Wenn überhaupt, gibt es nur wenige Einrichtungen, die es mit der Gemeinschaft einer Kirche aufnehmen können.
Dennoch ist ein schwindendes Vertrauen in Institutionen – auch in religiöse – ein typisches Merkmal unserer Zeit. Eine Folge ist, dass viele sich von der Familie, von Vereinigungen und der Gesellschaft insgesamt stärker absetzen. Ganz leicht löst sie sich da in ihre Bestandteile auf – sie zerfällt in Inseln von Individuen, die nicht in größere Zusammenschlüsse eingegliedert sind. Der Journalist David Brooks beklagte sich darüber, dass in diesem Zustand „der Einzelne nicht in eine feste Gesellschaftsordnung eingebunden ist, sondern in einer gedämpften Welt lebt, die er sich selbst zusammengesucht hat“4.
Eine Gesellschaft, die zu Materialismus, Individualismus und moralischem Relativismus anregt, mag wohl der „Souveränität des Ich“5 zuträglich sein, wie es einmal genannt wurde, aber sie schwächt andere Werte. Der Sozialphilosoph Michael Walzer mahnt zur Vorsicht: „Diese Freiheit, so erfrischend und anregend sie sein mag, ist auch zutiefst zersetzend. Sie macht es dem Einzelnen sehr schwer, einen festen Halt in der Gemeinschaft zu finden, und macht es der Gemeinschaft sehr schwer, sich auf die verantwortungsvolle Mitwirkung derer zu verlassen, die ihr angehören.“6
Ein losgelöster Individualismus trägt zu dem gesellschaftlichen Trend bei, „spirituell eingestellt, aber nicht religiös“ zu sein. Das führt dann oft dazu, dass der Glaube als eine Privatangelegenheit betrachtet wird, die andere nichts angeht. Dieser Gegensatz muss aber gar nicht sein. Man kann sowohl spirituell als auch religiös sein. Tatsächlich bedingen diese beiden Einstellungen einander in einer aktiv gelebten Religiosität.
Lillian Daniel schrieb einmal: „Jeder kann Gott finden, wenn er für sich allein einen Sonnenuntergang anschaut. Es gehört aber eine gewisse Reife dazu, Gott auch in demjenigen zu erkennen, der neben einem sitzt und eine andere politische Meinung hat, oder ihn dann zu erkennen, wenn man einer Predigt zuhören will und neben einem ein Baby schreit.“7 Genau diese Unannehmlichkeiten im Umgang mit anderen jedoch geben unserem Glauben Gehalt, nähren unser Mitgefühl und festigen unser Fundament als Mitbürger.
In einer Zeit nachlassenden Vertrauens und gesellschaftlichen Zerfalls stärkt eine Rückkehr zu den heiligen Vorsätzen einer Glaubensgemeinschaft das Gemeinwesen. Wenn die Struktur einer Gesellschaft sich auflöst, kann die Religion mit ihrem reichen Vorrat an sozialem Kapital dazu beitragen, sie zusammenzuhalten.
Anmerkungen
1. Rabbi David Wolpe, „The Limitations of Being ,Spiritual but Not Religious‘“, Time Magazine, 31. März 2013
2. Markus 12:31
3. Siehe Jonathan Sacks, „The Moral Animal“, New York Times, 23. Dezember 2012
4. David Brooks, „The Secular Society“, New York Times, 8. Juli 2013
5. Jean Bethke Elshtain, Sovereignty: God, State, and Self, Basic Books, New York, 2008
6. Michael Walzer, Citizenship and Civil Society, New Jersey Committee for the Humanities Series on the Culture of Community, Rutgers University, New Jersey, 13. Oktober 1992, Teil 1, Seite 11f.
7. Lillian Daniel, „Spiritual but not religious? Path may still lead to Church“, Winnipeg Free Press, 5. Oktober 2013