Kommentar


Die globale und die lokale Welt

Fünfter Artikel einer siebenteiligen Reihe über die Religionsfreiheit in aller Welt

Die Welt wird anscheinend immer kleiner.

Durch die Technik können wir leichter miteinander in Verbindung treten. Die sozialen Medien beschleunigen den Gedankenaustausch und überbrücken Entfernungen. Immer mehr Menschen denken, arbeiten und leben in einem gemeinsamen Informationsuniversum. Durch den freien Welthandel werden wirtschaftliche und politische Grenzen immer mehr aufgehoben. Unterschiedliche Religionen und Weltanschauungen prallen aufeinander und beeinflussen einander. Überall auf der Welt treten internationale Organisationen für Maßstäbe für Rechte, Freiheit und Demokratie ein.

Trotz dieser Trends stößt man aber nach wie vor auf Unterschiede in der Lebensart. Die Menschen schätzen die Einzigartigkeit ihrer eigenen Kultur mehr denn je. Sie möchten die Werte, Überlieferungen und Überzeugungen bewahren, die sie zu dem gemacht haben, was sie sind. Mexiko und Malaysia beispielsweise sind in internationale Systeme eingebunden, möchten aber nicht, dass in New York oder London darüber bestimmt wird, was bei ihnen im Land geschieht. Der kleine Rahmen ist immer noch wichtig.

Der Politologe Joseph Nye schrieb: „Man sollte weder davon ausgehen noch befürchten, dass die Globalisierung zu einer Homogenisierung führt. Vielmehr wird sie uns häufiger und in vielfältiger Weise die Unterschiede, die uns kennzeichnen, vor Augen führen.“[1]

  

Ganz gleich, wohin wir reisen, wo wir uns aufhalten oder wo wir uns niederlassen: Wir führen unser Leben an einem bestimmten Ort, der seine eigenen Besonderheiten, Sitten und Gebräuche hat. Die Verbundenheit mit unseren Mitmenschen und unseren Glaubensbrüdern und -schwestern formt unseren Charakter mit. Die Verantwortung, die wir von unseren Vorfahren übernommen haben, erfüllt uns bei der Arbeit mit Pflichtbewusstsein. Die Landschaft unserer Heimat macht uns zu erdverbundenen Menschen. Die Geschichte unseres Volkes verleiht dem, wofür wir kämpfen, Bedeutung. Jeder Ort ist anders.

Oft fühlt man sich lokal von der Einflussnahme internationaler Organisationen bedroht. All die Ratsgremien, Abkommen, Maßnahmen und Beschlüsse werden als große, unpersönliche Mächte empfunden, die das Selbstbestimmungsrecht auf lokaler Ebene schwächen. Solche Organe legen die Regeln für den Umgang zwischen den Völkern und Staaten fest und verfolgen ein gemeinsames Ziel. Was sie aber als moralische Norm aufstellen, wird oft als moralischer Druck wahrgenommen. Wenn Werte wie Glaube, Familie und Gemeinschaft, die im kleinen Rahmen ihre Geltung haben, verwässert werden, gerät die Gesellschaft aus den Fugen. Was im Kleinen so wichtig ist, kann auf der großen Bühne der internationalen Politik verlorengehen.

Dieses Spannungsverhältnis zeigt sich in vielfacher Weise: Gesetze gegen Gotteslästerung stehen dem Recht auf freie Meinungsäußerung entgegen, die Bemühungen um Diskriminierungsverbote der Versammlungsfreiheit, das Recht auf ein religiöses Gewissen dem Recht auf sexuelle Orientierung, die herkömmliche Geschlechterrolle der Gleichheit der Geschlechter, die liberale Moral der konservativen, religiöse Bekleidungsvorschriften weltlichen Vorstellungen und die Freiheit des Einzelnen dem Wohl der Gemeinschaft.

Normale Menschen, die an einem normalen Ort ein normales Leben führen, empfinden die Debatten in internationalen Organisationen mitunter als abgehoben. Der Fortschritt in Menschenrechtsfragen wird oft am Verhalten des Staates gemessen. Globalisierungsexperte Michael Ignatieff bezweifelt jedoch, dass der Wortlaut der Menschenrechte „in allgemein üblichen Verhaltensweisen wie Vertrauen und Toleranz oder Vergebungs- und Versöhnungsbereitschaft, welche die Grundlage der Moral des Einzelnen bilden, Niederschlag gefunden hat“.[2]

Trotzdem geht es hier nicht um Gut gegen Böse. Auch internationale Organisationen haben Prinzipien und ethische Werte. Gleichheit, Würde und Frieden haben bei ihnen einen hohen Stellenwert, und sie tragen viel zur Beilegung von Meinungsverschiedenheiten und zum Abbau von Konflikten bei. Beide Seiten streben an, was sie für richtig halten, und sollten das Gute, das jeder zu bieten hat, anerkennen. Im einvernehmlichen Dialog können verschiedene Seiten gemeinsam für die Menschenrechte eintreten und gleichzeitig die Eigenständigkeit lokaler Sitten und Gebräuche respektieren.

Dieses Ziel hat der Soziologe Jose Casanova vor Augen, wenn er vom Aufkommen eines „Weltbürgertums“ spricht und einen dauerhaften Konsens zwischen der globalen und der lokalen Welt fordert, der sich „auf weiter gefasste Normen“ stützen müsse, „die in den moralischen, kulturellen und religiösen Traditionen der verschiedenen Völker, aus denen sich die Menschheit zusammensetzt, zum Ausdruck kommen“.[3]

Unterschiedliche Meinungen und Dialoge sind kein Zeichen der Schwäche. Sie belegen, dass Menschen sich um das Wohl ihrer Gemeinschaft und der ganzen Welt sorgen.

Der Meinungsaustausch schützt uns vor Selbsttäuschung.


[1] Joseph Nye, „Globalism Versus Globalization“, The Globalist, 15. April 2002

[2] Michael Ignatieff, „Human Rights, Global Ethics, and the Ordinary Virtues“, Ethics & International Affairs, 10. März 2017

[3] Jose Casanova, „Globalization, Norms, and Just Governance“, in Religion, Peace, and World Affairs: The Challenges Ahead, 2016, Seite 29

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